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2018 habe ich eine Auszeit genommen, um zu erkunden, wie Kanada Zuwanderung und Integration organisiert. Das Land gilt als Vorbild, auch für Deutschland. In Vancouver konnte ich Fachleute sprechen und normale Bürger:innen. In den Blog-Texten lesen Sie, was ich erfahren und erlebt habe
Foto: Gemeinsam mit Patsy George in Vancouver
Donnerstag, 15. November 2018
Wie deutsche Einwanderer in Kanada leben
Mein letzter Blogbeitrag aus Vancouver beschäftigt sich mit deutschen Einwanderern in Kanada. Ich habe ihn kurz nach meiner Rückkehr in Berlin verfasst.
Kanada war schon immer ein Traumziel deutscher Auswanderer. Manche gründeten eigene Städte und benannten sie nach ihren deutschen Heimatorten. Berlin etwa gab es gleich mehrfach. Eines davon wurde während des Ersten Weltkriegs allerdings in Kitchener umbenannt. Noch heute leben in der Stadt mehr als 90.000 deutschstämmige Kanadier. Der kleine Ort Schefferville, den es nach wie vor gibt, wurde nach meinem Vorfahr Lionel Scheffer benannt, der von 1946 bis 1966 Bischof der Provinz Labrador war.
Größere Wanderungsbewegungen von Deutschen gab es vor allem nach den beiden Weltkriegen. Die ersten Deutschen kamen aber schon Ende des 19. Jahrhunderts, darunter viele Angehörige verfolgter deutscher Minderheiten aus Russland. Deutsche haben nicht zuletzt die Geschichte von Britisch Kolumbien und Vancouver geprägt.
Der deutschstämmige Händler David Oppenheimer versorgte Ende des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit seinen Brüdern Goldsucher im „Fraser River Valley“ mit allem, was sie für ihre Arbeit und fürs Überleben benötigten. Später ging er in die Politik und wurde der zweite Bürgermeister von Vancouver. Der Abenteurer Alvo von Alvensleben sammelte Anfang des 20. Jahrhunderts Geld beim deutschen Adel für die Erschließung von Rohstoffvorhaben in Britisch Kolumbien und den Bau großer Geschäftshäuser in Vancouver. Sogar Kaiser Wilhelm II. investierte in seine Projekte.
In einigen kanadischen Provinzen gehören deutschstämmige Kanadier noch immer zu den größten Bevölkerungsgruppen. In Edmonton gibt der Journalist Armin Joop die deutschsprachige Zeitung „Albertaner“ heraus.
Allein in Vancouver leben heute gut 190.000 Bürger mit deutschen Wurzeln. Die größten Gruppen kamen in den 1950er und 1960er Jahren, und sie verhielten sich in ihrer zweiten Heimat - überraschenderweise oder auch nicht - ganz ähnlich wie Zuwanderer in Deutschland.
Neuankömmlinge siedelten sich dort an, wo schon Deutsche wohnten, wo es einen deutschen Bäcker und deutsche Lokale gab. Freunde und Verwandte wurden nachgeholt, mit Jobs und Unterkünften versorgt. In bestimmten Gegenden in Vancouver leben noch heute sehr viele Deutschstämmige.
Es gibt ein Deutsches Haus, in dem Alpenromantik gepflegt wird, eine deutschsprachige evangelisch-lutherische Gemeinde und auch ein deutsch-kanadisches Altenheim. Zweimal im Monat organisiert Waltraud Custer in dem Seniorenwohnheim kulturelle Veranstaltungen für Deutschstämmige aus dem Haus und aus der Stadt.
Zu einem dieser Nachmittage war auch ich eingeladen. Viele der Gäste waren weit über 80 Jahre alt und Auswanderer der ersten Generation. Die meisten fühlen sich auch nach Jahrzehnten in Vancouver noch immer mit Deutschland verbunden. Manche bezeichneten Deutschland nach wie vor als ihre Heimat. Mehrere äußerten sich kritisch über die deutsche Flüchtlingspolitik der vergangenen Jahre. Eine Dame sprach beispielsweise von einer „Invasion von Ausländern“, die Deutschland schade. Als ich sie fragte, ob sie die Zuwanderung nach Kanada, speziell nach Vancouver, wo inzwischen etwa die Hälfte der Bewohner ethnischen, meist asiatischen Minderheiten angehört, ebenso negativ beurteile, erwiderte sie: „Was in Kanada passiert, ist mir egal, das ist schließlich nicht mein Heimatland.“ Ob diese Aussage repräsentativ war, kann ich nicht beurteilen.
Dass deutsche Einwanderer nach ihrer Ankunft in Kanada die Nähe anderer Deutscher suchten, war für sie selbstverständlich. Eine Dame berichtete, sie habe auch ihre Mutter zur Auswanderung überreden wollen, doch die habe sich nicht zugetraut, Englisch zu lernen. „Ich habe ihr gesagt, du musst gar kein Englisch können, in unserer Nachbarschaft spricht jeder deutsch.“ Eine andere Dame erzählte, ihr Sohn habe sich geweigert, zu Hause deutsch zu sprechen, nachdem er ein, zwei Jahre in Kanada zur Schule gegangen war. „Ich habe aber darauf bestanden, dass wir in der Familie unsere Muttersprache beibehalten.“
Manche Verhaltensweisen von Zuwanderern sind offenbar einfach pragmatisch. Und dass man als Migrant seine alte Identität nie ganz ablegen kann, scheint auch nicht nur ein Problem von Deutschtürken zu sein. In Kanada käme allerdings niemand auf die Idee, deutschstämmigen Kanadiern ihre Verbundenheit mit Deutschland vorzuwerfen - und niemand stört sich daran, wenn sie zum obligatorischen Oktoberfest im Deutschen Haus in Dirndl und Lederhose erscheinen. Das Restaurant wird im Übrigen bevorzugt von asiatischen Kanadiern und Touristen besucht, die bekanntlich ein Faible für süddeutsches Brauchtum haben.
Auch Kristina Breit hängt nach wie vor an Deutschland. Die 42-Jährige ist Pfarrerin in der evangelisch-lutherischen Markusgemeinde in Vancouver. Vor neun Jahren wurde sie in Deutschland von einer Delegation der kanadischen Gemeinde quasi entdeckt und gefragt, ob sie sich vorstellen könne, nach Vancouver zu kommen. Sie kam, arbeitet inzwischen aber zusätzlich in einem Naturschutzprojekt. Aus Gesprächen mit Gemeindemitgliedern und aus aus eigener Erfahrung sagt sie: „Die Wurzeln bleiben wichtig.“ Auswanderer könnten nicht einfach die Seiten wechseln, ihre alte Identität gegen eine neue eintauschen. Das Bild des Ursprungslandes werde indes konserviert, glaubt Pastor Breit. „Irgendwann nimmt man die Veränderungen dort nicht mehr wahr.“
Oder man möchte eben nicht, dass sich das Heimatland verändert - obwohl man es doch verlassen hat, weil man dort keine Zukunft für sich sah.
Freitag, 2. November 2018
Das kanadische Bildungssystem ist voll auf die Integration von Zuwanderern ausgerichtet
Meine Zeit in Kanada neigt sich dem Ende zu. Ein, zwei wichtige Integrationsaspekte stehen noch auf meiner Themenliste. Eines davon ist das Schulsystem hier. Schließlich ist Bildung ein Schlüssel für Integration - vielleicht sogar der Schlüssel. Ich konnte Experten befragen und auch Praktiker, also Lehrer, und mit ihnen über die besonderen Anforderungen an die Institution Schule in einem Einwanderungsland sprechen. Glücklicherweise habe ich außerdem meine beiden Kinder (13-jährige Zwillinge) dabei, die während unseres Aufenthalts eine öffentliche Highschool (in Vancouver Secondary School genannt) besuchen. Ich erfahre also auch sehr viel über das Schulleben.
Überraschenderweise berichten meine Kinder, dass die Atmosphäre in ihrer kanadischen Schule gelöster ist als auf ihrem Berliner Gymnasium. Die Schüler seien aufmerksamer und disziplinierter, die Lehrer weniger angespannt, sagen sie. Dabei ist ihre Schule in Berlin alles andere als eine Problemschule. Im Gegenteil: Sie gehört zu den besseren in der Stadt. Es gibt dort viele gute und motivierte Lehrer und auch die Stimmung empfinden wir als ausgesprochen positiv.
Das Schulkonzept der „Sir Charles Tupper Secondary School“ ist allerdings stärker auf die Förderung der Schul- und Klassengemeinschaft ausgerichtet, als dies in Berlin der Fall ist. So hat die kanadische Schule soziale Regeln aufgestellt, die immer wieder im Unterricht thematisiert und hervorgehoben werden - egal ob im naturwissenschaftlichen Unterricht, in Sport, Mathe oder Englisch.
Die Regeln werden kurz ROARS genannt, wobei jeder Buchstabe für einen Wertbegriff steht: R für Responsibility (verantwortliches Handeln allgemein), O für Ownership (sich für die Schule verantwortlich fühlen), A für Attitude (Haltung), R für Respect (Respekt) und S für Safety (Sicherheit). Jede Schülerin und jeder Schüler ist angehalten, sich für diese fünf Werte stark zu machen.
Die ROARS gibt es an der Tupper-School schon lange. Sie entsprechen aber ganz dem neuen Curriculum der kanadischen Provinz Britisch Kolumbien, das der Sozialerziehung deutlich mehr Gewicht gibt als der fachlichen Bildung. „Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass die sozial-emotionale Entwicklung eine Voraussetzung für die Entwicklung akademischer Fähigkeiten ist“, begründet Tupper-Direktorin Alison Ogden die Neuausrichtung.
Ob und wie sich die Veränderungen des Curriculums auf das Leistungsniveau der Schüler auswirken, muss sich noch zeigen. Bisher schnitt Kanada bei internationalen Bildungsvergleichen sehr gut ab. 2015 belegte das Land bei der Pisa-Schülerstudie Platz 4. Bedenkt man, dass Kanada jedes Jahr etwa ein Prozent seiner Bevölkerung durch Immigration neu hinzugewinnt und entsprechend viele Zuwandererkinder ins Schulsystem integrieren muss, ist dieses Ergebnis bemerkenswert. Zum Vergleich: Deutschland schaffte es nur auf Platz 13.
In Kanada besuchen Kinder bis zur 12. Klasse Gemeinschaftsschulen, in der Highschool werden sie allerdings in einzelnen Fächern in Kurse mit unterschiedlichen Leistungsanforderungen eingruppiert.
Bis zu 70 Prozent der Schüler an weiterführenden Schulen in Vancouver sprechen zu Hause nicht Englisch. Ihre Eltern stammen aus China, Indien, Korea, von den Philippinen, aus afrikanischen, arabischen, südamerikanischen und europäischen Staaten. Die Schülerschaft ist also außerordentlich heterogen. Auch dem trägt das neue Curriculum in Britisch Kolumbien Rechnung. Schulen sollen den sozialen Zusammenhalt fördern und Kindern in erster Linie helfen, gute Kanadier zu werden. Der Leistungsgedanke steht erst an zweiter Stelle.
In Deutschland liegt der Schwerpunkt der Schulerziehung hingegen weiter ganz klar auf der Wissensvermittlung. Eine Abkehr davon käme einem Kulturbruch gleich. Klar ist aber auch, dass Zuwanderung und Integration gerade an Schulen besondere Herausforderungen stellen. Die Schule ist schließlich die einzige Institution, die direkten Einfluss auf die Entwicklung künftiger Staatsbürger nehmen kann.
Taugt Kanada als Vorbild? Das lässt sich schwer beurteilen, denn die Voraussetzungen dort sind andere als in Deutschland. Vancouver beispielsweise schafft es zwar, außergewöhnlich viele Zuwanderer zu integrieren. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass viele der Neuankömmlinge in der Stadt aus Ländern und Kulturen stammen, in denen Bildung im Allgemeinen einen hohen Stellenwert hat - aus China etwa oder aus Korea. Schüler aus asiatischen Familien gelten zudem als diszipliniert und haben in der Regel keine Probleme, Lehrerinnen zu respektieren.
Damit möchte ich nicht sagen, dass Zuwandererkinder in Deutschland all das nicht mitbringen. Im Klartext: Vor allem muslimische Familien sollen hier nicht pauschal als bildungsfern hingestellt werden, muslimische Jungen nicht grundsätzlich als undiszipliniert und frauenfeindlich. Fakt ist aber, dass es diese Konstellationen gibt und dass sie Ursache vieler Probleme an deutschen Schulen sind. Deutschland wird also seinen eigenen Weg finden müssen.
Dennoch lohnt es sich, das kanadische System näher zu betrachten. Neben der Sozialerziehung ist natürlich die Sprachvermittlung eine zentrale Aufgabe der Schulen in Kanada. Kinder, die unzureichend Englisch sprechen, erhalten zusätzlichen Englischunterricht. Teilweise erhalten Schüler mit Sprachproblemen außerdem gesonderten Unterricht in Fächern wie Mathe, Natur- oder Sozialwissenschaften. Einzelne Schulen haben Programme für Kinder, die in ihrem Herkunftsland gar nicht oder kaum zur Schule gehen konnten, oder für Kinder, die nach mehreren Jahren Förderunterricht noch immer keinen Anschluss gefunden haben. Solche Schüler erhalten dann sogar Einzelunterricht.
Schulen arbeiten zudem mit Stadtteilzentren zusammen, um sinnvolle Freizeitangebote für Schüler zu schaffen. Eltern können in der Schule Integrationsberater treffen, die Tipps für Job- oder Wohnungssuche geben und auf Weiterbildungsprogramme hinweisen.
Positiv auf das Schulleben wirkt sich sicher nicht zuletzt die Tatsache aus, dass Lehrer in Kanada weniger Stunden unterrichten müssen als in Deutschland. Sie können folglich mehr Zeit investieren, um persönliche Beziehungen zu ihren Schülern - und deren Eltern - aufzubauen. Lehrer initiieren Schülerklubs für sportliche oder kreative Aktivitäten und informieren Eltern und Schüler ausführlich auf eigenen Webseiten über Unterrichtsanforderungen und -ziele.
Das Ansehen von Lehrern in Kanada ist übrigens sehr hoch. Und anders als in den USA gilt das öffentliche Schulsystem hier als gut. Privatschulen haben zwar Zulauf, doch nicht in dem Maße, dass dies zu einer sozialen Segregation von Schülern führen würde.
Mittwoch, 24. Oktober 2018
Viele Kulturen, eine Nation: Über das Selbstverständnis einer Zuwanderergesellschaft
Eine Frage, die ich mir in Kanada immer wieder stelle, lautet, ob das multikulturelle Gesellschaftsmodell ein Nationalbewusstsein nicht unmöglich macht? Es heißt zwar „viele Kulturen, eine Nation“, doch was bedeutet das im wahren Leben? Gibt es etwas, dass alle Kanadier verbindet, eine gemeinsame Identität?
Das haben mir Kanadier geantwortet, die ich nach ihrem nationalen Selbstverständnis gefragt habe:
Larry (Mitte 40), Bauarbeiter, ist stolz darauf, dass seine - polnischen - Vorfahren zu den ersten Siedlern im Westen Kanadas zählten. „Meine Vorfahren haben dieses Land urbar gemacht. Sie haben dieses Land erschaffen.“ Also sind für ihn nur Abkömmlinge von Siedlern echte Kanadier? „Jeder, der hierherkommt und dazu beiträgt, dieses Land besser zu machen, gehört dazu, egal, wo er herkommt, welche Hautfarbe er hat oder welche Religion“, sagte Larry mir dazu. Sein Nationalbewusstsein bezieht sich also auf eine Art erweiterten Siedlerstolz, der durchaus mit Multikulturalismus vereinbar ist.
Melodie (27), vor zehn Jahren aus Hongkong nach Kanada eingewandert, identifiziert sich ausdrücklich mit dem multikulturellen Gesellschaftsmodell in ihrer neuen Heimat. Für sie macht gerade das die kanadische Identität aus. „Meine Freunde haben unterschiedliche kulturelle Wurzeln. Dennoch verstehen wir uns, leben friedlich zusammen, tauschen und aus und lernen auch voneinander. Das ist etwas ganz Besonderes, das es so fast nirgendwo auf der Welt gibt.“
Patsy George (78), geboren in Indien, ehemalige Direktorin für Multikulturalismus in der Provinz Britisch Kolumbien, erläuterte mir im Gespräch, Kanadas Multikulturalismus sei eher ein Pluralismus. „Niemand soll seinen kulturellen Hintergrund verleugnen, er muss sich aber klar zu den kanadischen Werten bekennen.“ Diese Werte basierten im Wesentlichen auf den in der Verfassung verankerten Grundrechten und Bürgerpflichten wie Respekt der Menschenwürde, Meinungs- und Redefreiheit, Rechtstreue und Gleichberechtigung. Die nationale Identität der Kandier beschränkt sich Patsys Ansicht nach aber nicht auf diese Werte allein, sie ist also kein reiner Verfassungspatriotismus. Kanadas Selbstbewusstsein werde vielmehr durch die Abgrenzung zum (über-)mächtigen Nachbarn USA bestimmt, sagte sie: „Wir verstehen uns als das bessere Amerika.“
Ein aus Indien stammender Taxifahrer (um die 30) sagte dagegen schlicht, ein Kanadier sei jemand, der seine Steuern zahlt, seinen Lebensunterhalt rechtschaffen bestreitet und seine Freiheit genießt. Er fühle sich ganz klar als Kanadier, so der Taxifahrer, auch wenn er hin und wieder rassistische Untertöne in Gesprächen mit Fahrgästen heraushöre. Grundsätzlich empfinde er so etwas wie Gemeinschaft. Einzige Ausnahme: Neureiche Zuwanderer, die ihr Geld im Ausland verdienten, seien ein Fremdkörper in der Gesellschaft und gefährdeten den Zusammenhalt.
Chris Friesen (Anfang 50), Direktor für Integrationsprogramme bei der „Immigrant Services Society of British Columbia“ (ISSofBC), beschrieb ein Selbstverständnis, mit dem sich wohl viele seiner Landsleute identifizieren können. „Wir Kanadier sind stolz auf unsere Demokratie, unsere Grundwerte, unsere Diversität und auf liberale Errungenschaften wie die gleichgeschlechtliche Ehe oder jüngst die Legalisierung von Cannabis. Als Staat sehen wir uns als Mittler, der sich nicht in den Vordergrund drängt, sondern eher im Hintergrund agiert.“
Doch reicht ein solcher Verfassungspatriotismus aus, eine Nation zu formen? Gehört dazu nicht doch eine Art Leitkultur? In einem so jungen Land, das von Einwanderern aus ganz verschiedenen Ländern aufgebaut wurde, wäre dies veilleicht am ehesten der Siedlerstolz, wie ihn Bauarbeiter Larry in dieser Sammlung vertritt - und der Neuankömmlinge offenbar durchaus einschließen kann. Angesichts des an den Ureinwohnern begangenen Unrechts taugt die Geschichte andererseits nur bedingt als identifikationsstiftender Bezugsrahmen.
Dan Hiebert, Regierungsberater beim Thema Migration und Professor an der University of British Columbia, hält nationale Identitäten ohnehin für überschätzt. „Wenn Sie jemanden in Kanada, Frankreich, Schweden oder in Deutschland fragen, was seine nationale Identität ausmacht, werden Sie dieselben Antworten bekommen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Es gibt also eher so etwas wie eine westliche Identität.“ Und wenn Zuwanderer aus nicht westlichen Kulturkreisen bestimmte westliche Grundwerte nicht teilen und auf Veränderungen drängen? „Grundwerte kann man schützen, indem man sie in der Verfassung festschreibt“, erwiderte mir Dan Hiebert darauf. Dieser Schutz sei aber nicht allumfassend. „Was im Alltag, im sozialen Miteinander geschieht, lässt sich nur schwer beeinflussen.“
In Vancouver, wo inzwischen rund 50 Prozent der Bewohner aus nicht westlichen Kulturen stammen, sieht Hiebert liberale Werte bisher nicht in Gefahr. Viele Zuwanderer kämen gerade wegen dieser Werte, wegen der Freiheit, die Kanada ihnen biete, argumentiert er. „Multikulturalismus birgt nämlich nicht nur das Recht sich zu unterscheiden, sondern auch das Recht dazuzugehören.“
Fazit: Den Kanadiern geht es letztlich auch nicht besser als uns Deutschen. Sie sind sich nicht einig, was ihre nationale Identität ausmacht. In Kanada scheint das Bedürfnis, sich über das Thema zu verständigen, allerdings deutlich weniger ausgeprägt zu sein.
Dabei gibt es durchaus etwas Verbindendes, das zumindest Ausländern gleich auffällt: Der respektvolle Umgang der Kanadier miteinander. Sie begegnen sich meist freundlich und rücksichtsvoll, vermeiden kontroverse Themen, wenn die den Gesprächspartner verletzen könnten.
In Vancouver wünscht einem der Busfahrer oder die Fahrerin schon am frühen Morgen einen „great day“, im Gegenzug bedanken sich die Fahrgäste für die Fahrt, wenn sie aussteigen. Dieses Verhalten scheint für Kanadier indes so selbstverständlich zu sein, dass sie es gar nicht erwähnenswert finden.
Mittwoch, 17. Oktober 2018
Willkommenskultur als Normalzustand
Sie können Anspielungen auf Angela Merkels "Wir schaffen das" nicht mehr hören? Das ist verständlich. In diesem Beitrag geht es auch nicht um das Krisenmanagement der Bundeskanzlerin seit 2015, sondern darum, wie Kanada es ohne große Debatten schafft, Einwanderer und Flüchtlinge zu integrieren.
Neuankömmlinge, wie sie hier heißen, machen pro Jahr rund 1 Prozent der kanadischen Bevölkerung aus. In Deutschland entspräche dies mehr als 800.000 Zuwanderern - jährlich, wohlgemerkt. Mit anderen Worten: Kanada integriert Jahr für Jahr etwa so viele Menschen, wie während der Flüchtlingskrise nach Deutschland kamen.
Und das Land scheint einiges richtig zu machen. Viele Zuwanderer schaffen es bis ganz nach oben. Kanadas Verteidigungsminister ist ein Sikh, der in Indien zur Welt kam. Der Minister für Rohstoffe stammt ebenfalls aus Indien, der Einwanderungsminister aus Somalia, die Frauenministerin wurde als Kind afghanischer Eltern im Iran geboren. Auch ein Einwanderer aus Argentinien und eine Einwanderin aus Hongkong gehören zum Kabinett von Premierminister Justin Trudeau. Die Pazifik-Provinz Britisch Kolumbien hatte schon im Jahr 2000 einen indischen Einwanderer als Premier, und bei der Bürgermeisterwahl in Vancouver an diesem Wochenende treten ebenfalls mehrere Kandidaten mit asiatischen Wurzeln an.
Wie also gelingt Integration in Kanada?
Die naheliegendste Erklärung wäre, dass Kanada seine Einwanderer auswählt und nur Bewerber ins Land lässt, die gut ausgebildet sind und möglichst eine der Landessprachen - Englisch oder Französisch - schon beherrschen. Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber, die all das oft nicht mitbringen, machen nur rund 14 Prozent der Zuwanderer aus. Doch so einfach ist es nicht. Unterm Strich sind weit weniger als die Hälfte der jährlichen Neuankömmlinge in Kanada gesuchte Fachkräfte. Bei der Mehrzahl der Zuwanderer handelt es sich um mitreisende Familienangehörige oder Angehörige früherer Zuwanderer - die sehr unterschiedliche Voraussetzungen für den Neustart in Kanada mitbringen.
Auch in Kanada ist Integration also kein Selbstläufer. Die Bundes- und Landesregierungen und auch große Städte investieren massiv in entsprechende Programme und Projekte. In Vancouver sieht man in fast jedem Bus Hinweise auf Sprachkurse oder Jobtrainings für Einwanderer. Integrationsberater gehen in Schulen, Gemeindezentren und Bibliotheken. Schulen, die spezielle Spracherwerbprogramme anbieten, erhalten von ihrem Schuldistrikt rund 900 Euro pro Schüler und Jahr zusätzlich. Auch Stadtteilbibliotheken bieten Sprachkurse und Bewerbungshilfen an, Kirchen werben mit großen Plakaten für ihre Bibelklassen für Sprachanfänger. Viele Unternehmen beschäftigen Integrationsbeauftragte.
Das Thema Integration gilt als Querschnittsaufgabe für die Regierungsarbeit, und es durchdringt praktisch die ganze Gesellschaft. Chris Friesen von der Immigrant Services Society of British Columbia (ISSofBC) erklärt das so: "Wir verstehen Integration nicht als Einbahnstraße allein für die Immigranten. Die Gesellschaft hat ebenso eine Verantwortung für die Integration." In der Praxis bedeutet das: Nachbarschaftsfeste sind selbstverständlich kulturübergreifend, Programmflyer von Stadtteilzentren, Vereinen, Kirchen oder Bibliotheken voll mit interkulturellen Kochkursen, Kulturveranstaltungen und Sportgruppen.
Zur Erinnerung: Kanada versteht sich als multikulturelle Nation. Einwanderer sollen rechtschaffene Staatsbürger werden, ihren Lebensstil müssen sie aber nicht ändern - sofern der nicht gegen Grundrechte wie etwa die Gleichstellung von Mann und Frau verstößt. Viele Kulturen, eine Nation, lautet die plakative Definition des nationalen Selbstverständnisses, das nicht nur ein Zugeständnis an Zuwanderer ist, sondern auch an die Ureinwohner des Landes und die französischsprachigen Kanadier.
Völlig spannungsfrei verläuft das "Experiment Multikulturalismus", wie Chris Friesen sagt, natürlich nicht. Gerade in Vancouver rumort es, seit wohlhabende Einwanderer aus China den Immobilienmarkt aufmischen und sich wenig um den sozialen Zusammenhalt in der Stadt scheren.
Doch vieles läuft eben auch sehr gut in Vancouver. Anders als in Deutschland funktionieren die Stadtteilzentren hier wirklich als Begegnungsstätten für alle gesellschaftlichen Gruppen. Fast jeder kommt hier irgendwann vorbei, denn meist sind öffentliche Schwimmbäder, Eishallen und Stadtteilbibliotheken im selben Gebäude untergebracht. Für die Integration ist das von großem Vorteil. Nicht nur, weil Neukanadier hier zwangsläufig mit Alteingesessenen zusammentreffen. Während ihre Kinder Eishockey trainieren, können Mütter zum Beispiel leicht einen Sprachkurs in der Bibliothek besuchen.
Das Unter-einem-Dach- und Mittendrin-Prinzip hat auch ISSofBC konsequent umgesetzt. Die Organisation ist einer der "Big-Player" im Integrationsbusiness in British Columbia. Das Wort Business ist hier keineswegs fehl am Platz, denn Integration schafft in Kanada jede Menge Arbeitsplätze. ISSofBC beschäftigt mehr als 400 Mitarbeiter und hat ein Jahresbudget von umgerechnet rund 15 Millionen Euro. Die Gesellschaft ist nicht-staatlich, finanziert sich aber vorwiegend über öffentliche Gelder. In Vancouver hat ISSofBC in diesem Jahr ein neues Welcome-Center eröffnet. Es dient als Servicecenter für Einwanderer und beherbergt gleichzeitig bis zu 150 Flüchtlinge. Chris Friesen nennt das neue Center stolz eine Service-Mall für Neuankömmlinge, was einiges über die Grundeinstellung der Kanadier zu Einwanderern aussagt.
Neben Sprachkursen, Rechtsberatung, Arbeitsvermittlung und speziellen Berufsvorbereitungs-Workshops gibt es im ISS-Welcome-Center ein Gesundheitszentrum, einen Kindergarten, ein kleines Jugendzentrum, ein Beratungsbüro der Polizei und sogar eine Bankfiliale. Die Nachbarschaft wird eingeladen und einbezogen. "An freiwilligen Helfern mangelt es uns nicht", hat mir Chris Friesen versichert. "Wir können leider gar nicht alle einsetzen, die sich bei uns melden."
Das klingt fast nach deutscher Willkommenskultur im Herbst 2015. In Kanada ist die allerdings kein Ausnahmezustand, sondern der Normalfall - schließlich fürchtet man sich hier traditionell eher vor einer Untervölkerung und hat schon immer auf Zuwanderung gesetzt, um das Land zu erschließen und weiterzuentwickeln.
Montag, 1. Oktober 2018
Empfehlungen eines kanadischen Migrationsexperten
Jetzt wird es konkret: Der kanadische Wirtschaftswissenschaftler und Deutschland-Kenner Don DeVoretz hat mir in einem langen Gespräch Empfehlungen für ein deutsches Einwanderungsgesetz mit auf den Weg gegeben. Kernpunkt ist eine Formel für die Steuerung der Zuwanderung.
Der Bundesregierung rät DeVoretz, nach Rücksprache mit Wirtschaftsverbänden und zivilen Organisationen einen Fünf- oder besser noch einen Zehnjahresplan aufzustellen. Darin sollte festgelegt werden, wie viele Zuwanderer pro Jahr nach Deutschland kommen sollen.
55 Prozent dieser Zuwanderer sollten dann nach ökonomischen Kriterien ausgewählt werden, 45 Prozent nach anderen, etwa humanitären Kriterien. Asylbewerber und Flüchtlinge schließt DeVoretz hier ein. Die Familienangehörigen von Fachkräften würden dagegen der ökonomischen Zuwanderung zugerechnet. “Diese Mischung wäre für Deutschland meiner Ansicht nach angemessen”, sagt der Wissenschaftler.
DeVoretz, inzwischen pensioniert, hat an der Simon-Fraser-Universität in Vancouver die wirtschaftlichen Auswirkungen von Migrationsbewegungen untersucht. Er gehört außerdem dem internationalen Forschungsnetzwerk des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) an, das die Deutsche Post-Stiftung finanziert. In den vergangenen Jahrzehnten verbrachte er mehrfach längere Forschungsaufenthalte in Deutschland.
In einem früheren Blogbeitrag hatte ich bereits Aussagen von Professor DeVoretz zur Situation in Deutschland aufgegriffen. In Vancouver hat er mir nun ausführlich erläutert, was er der deutschen Politik mit Blick auf ein Zuwanderungsgesetz empfiehlt.
Klar ist für ihn: “Angesichts der demografischen Entwicklung wird Deutschland in der Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sein, um den Verlust an Arbeitskräften auszugleichen.” Ein Einwanderungsgesetz, das vor allem auf die Zuwanderung von Fachkräften abzielt, hält DeVoretz aber für den falschen Weg.
Die Begründung: In Kanada habe sich gezeigt, dass auch gut ausgebildete Einwanderer nur schwer in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten. Meist reichten die Sprachkenntnisse für eine qualifizierte Tätigkeit nicht aus, Abschlüsse würden nicht anerkannt, oder Arbeitgebern fehlten bei Bewerbungen von Zuwandern schlicht Arbeitserfahrungen in Kanada. Probleme, die der Wissenschaftler auch in Deutschland sieht. Spitzenkräfte zögen zudem nicht selten nach wenigen Jahren in andere Länder weiter, sagt er.
Deutschland solle daher eher “potenzielle Eltern” ins Land holen, so DeVoretz. Was er damit meint? Bei der Zuwanderung sollten Familien begünstigt werden, Familien mit vielen Kindern sogar ganz besonders. Dies könne helfen, das Bevölkerungswachstum wieder anzukurbeln - und den Arbeitskräftemangel zu beheben. Voraussetzung dafür sei allerdings ein gutes, auf Integration ausgelegtes Bildungssystem. “Denn in der Schule werden die künftigen Bürger geprägt.”
Grundsätzlich würde mit einer Zuwanderungsformel, wie sie Don DeVoretz vorschlägt, die umstrittene Obergrenze für Zuwanderer in Deutschland eingeführt. Denn Flüchtlinge und Asylbewerber bezieht DeVoretz ja ausdrücklich in seine Überlegungen ein.
Er macht aber auch deutlich: “Ein solches System muss flexibel sein und auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren.” Wenn wie 2015 und 2016 in Deutschland aufgrund akuter Krisen mehr Flüchtlinge als vorgesehen ins Land kämen, könne die Quote für Fachkräfte im entsprechenden Zeitraum heruntergesetzt werden, erklärt DeVoretz. “Später kann dies wieder ausgeglichen werden, indem man die Fachkräftequote einige Jahre heraufsetzt.”
Angesichts der aktuellen Stimmungslage in Deutschland rät Don DeVoretz außerdem davon ab, Zuwanderer zwangsweise im ganzen Land zu verteilen, wie es im deutschen Asylsystem derzeit der Fall ist. “Großstädte sind in der Regel besser geeignet, das Zusammenleben verschiedener Kulturen zu organisieren. Und sie haben damit auch Erfahrung.”
Zum Abschied sagte DeVoretz noch: “Und bitte, wir sollten nie vergessen, dass wir über Menschen reden und nicht über Autos oder andere Wirtschaftsgüter.”
Mittwoch, 19. September 2018
Wie reiche Einwanderer in Vancouver die Immobilienpreise nach oben treiben
Die meisten Großstädte kämpfen mit steigenden Immobilienpreisen. Kanadas westliche Metropole Vancouver hat in den zurückliegenden Jahren allerdings einen außergewöhnlichen Boom erlebt. Seit sich wohlhabende, reiche und superreiche Einwanderer und Investoren um Häuser, Penthäuser und Apartments in der Stadt reißen, ist der Immobilienmarkt hier völlig aus den Fugen geraten.
Vor allem Chinesen, aus Hongkong und vom Festland, legen Geld in Vancouver an - sei es, um es vor dem Zugriff der chinesischen Behörden zu schützen oder um sich gegen mögliche Krisen abzusichern. Viele besitzen auch kanadische Pässe und ziehen zweiweise oder ganz nach Kanada.
Nicht wenige Investoren lassen ihre Immobilien aber auch einfach leerstehen. Für Vancouver bedeutet das: Die Stadt leidet unter Wohnungsnot und sieht sich gleichzeitig mit einem großen Leerstand konfrontiert. Um zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, werden inzwischen sogar öffentliche Parks verkleinert.
Im aktuellen Kommunalwahlkampf sind die steigenden Immobilienpreise und Mieten das bestimmende Thema. Denn wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt hat Vancouver bisher kein Mittel gegen die Aufwärtsspirale gefunden. Neu eingeführte Steuern für ausländische Wohnungskäufer, für Besitzer von Luxusimmobilen oder Zweitwohnungen laufen weitgehend ins Leere. Luxussanierungen, verbunden mit Schikanen gegen unliebsame Altmieter, nehmen zu.
Eine sogenannte “Empty-Homes-Tax” für Immobilien, die nicht mindestens sechs Monate im Jahr bewohnt werden, hat Vancouver sogar Probleme ganz neuer Natur beschert. Um die Steuer zu vermeiden, schicken viele Investoren einzelne Familienmitglieder nach Vancouver - junge Männer meist, manchmal sogar Minderjährige. Und so wohnt manch ein 18- oder gar 16-Jähriger allein in einer 20-Zimmer-Villa. Ein Porsche in der Garage inklusive.
Die jungen Reichen sind in Vancouver nicht gerade beliebt. Man hört von Autorennen und Drogenparties. Manchmal müssen die Behörden sogar einschreiten und entscheiden, ob sie einen der Jugendlichen in Obhut nehmen, ihn also von seiner Villa in ein Heim verfrachten sollen. Das belastet dann auch noch das städtische Sozialbudget.
Der Immobilien-Boom setzt sich derweil ungebremst fort: Am Bauzaun für ein neues Hochhaus in Downtown Vancouver hängt ein Schild mit dem Hinweis “sold out”, “ausverkauft”, obwohl noch gar nicht gebaut wird. 115 Luxusapartments sollen hier entstehen.
In den traditionellen Mittelschicht-Vierteln südlich des Zentrums werden einfache Holzhäuser, beziehungsweise die oft sehr kleinen Grundstücke, auf denen diese stehen, inzwischen für mehr als eine Million Euro verkauft. Die neuen Besitzer reißen das traditionelle Holzhaus meist einfach ab und ersetzen es durch ein futuristisches Townhouse mit Dachterrasse.
Angestammte Einwohner, die nicht mehr mithalten können, weichen und ziehen in die Vorstädte. Tausende jedes Jahr. Insgesamt ist der Großraum Vancouver in den vergangenen Jahren trotzdem gewachsen. Rund 2,5 Millionen Menschen leben hier, mehr als 31.000 zogen allein zwischen 2016 und 2017 neu zu. Zwei Drittel der Neubürger kamen aus dem Ausland, vor allem aus China und Indien.
Einer der aussichtsreichsten Kandidaten für Vancouvers Bürgermeisterposten hat für den Fall seiner Wahl neben weiteren Steuern und neuen Sozialwohnungen die Einrichtung eines städtischen Beratungsbüros für Mieter unter Druck angekündigt. Doch auch das wird wohl wenig ändern, so lange ausländische Investoren bereit sind, für einen Rückzugsort in Vancouver jeden Preis zu zahlen.
Sonntag, 9. September 2018
Kanadier denken über Zuwanderung anders als wir
Ganz schön konsequent, diese Kanadier. Seit sich das Land 1971 zur multikulturellen Nation erklärt hat, gilt ganz offiziell: Die kanadische Gesellschaft ist die Summe der Herkunftskulturen ihrer Bürger. Entsprechend hat jeder Einwanderer das Recht, seine Ursprungskultur weiter zu pflegen, so lange er sich gleichzeitig zu seiner neuen Heimat und deren Werten (Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung) bekennt, Steuern zahlt und nicht gegen kanadische Gesetze verstößt. Kulturklubs, also Landsmannschaften, sind ausdrücklich erwünscht. Sie sollen sozialen Halt geben.
Keine Kultur wird privilegiert. Auch nicht bei der Zulassung neuer Einwanderer. Rasse, Religion und ethnische Herkunft dürfen bei der Auswahl keine Rolle spielen. Humanitäre Aspekte zählen allerdings auch kaum. Entscheidend ist vor allem, ob jemand gut ausgebildet ist, gut Englisch oder Französisch spricht oder bereits Verwandte im Land hat. Dass Kanada Zuwanderung braucht, um dem demographischen Wandel zu begegnen und die Wirtschaft voranzubringen, ist Konsens.
Auch in Vancouver habe ich bisher niemanden getroffen, der dies infrage stellt. Obwohl sich die Stadt in den vergangenen 30 Jahren durch Zuwanderer stark verändert hat. Rund die Hälfte der Menschen im Großraum Vancouver gehört inzwischen ethnischen Minderheiten an. Die meisten stammen aus Asien, jeder fünfte aus China. Betrachtet man Kanada insgesamt, sind asiatische Einwanderer deutlich weniger präsent. In Vancouver prägen sie jedoch das Stadtbild. An den Schulen der Stadt geben teilweise bis zu 70 Prozent der Schüler an, dass Englisch nicht ihre Muttersprache ist.
“China hat mehr als 1,3 Milliarden Einwohner, Indien mehr als 1,2 Milliarden, und wir Kanadier sind nur 36 Millionen. Wir müssen also aufpassen, dass wir nicht überrannt werden”, sagte mir ein Besucher aus dem Osten Kanadas, den ich hier in Vancouver bei meinen Vermietern traf. Als ich ihn fragte, ob er also Zuwanderungsbeschränkungen für asiatische Einwanderer gutheißen würde, schüttelte er allerdings energisch den Kopf. “Jeder, der legal ins Land kommt und seinen Beitrag leistet, ist willkommen”, so seine knappe Antwort.
Larry, ein weißer Kanadier in den 40ern, der in Vancouver auf dem Bau arbeitet, reagierte ähnlich, als ich mit ihm über die Veränderungen in Vancouver sprach. Dabei bekommt er die Konsequenzen hautnah zu spüren. Im Bausektor sei das Lohnniveau in den vergangenen Jahren stark gesunken, weil Unternehmen Billigarbeitskräfte aus Asien einstellten, berichtete er. Die Arbeiter kämen mit befristeten Aufenthaltsgenehmi-gungen ins Land und akzeptierten jedes noch so schlechte Jobangebot.
Um sein Gehalt aufzubessern, repariert Larry nebenher gebrauchte Fahrräder, die er anschließend im Internet weiterverkauft. Für eine eigene Wohnung reicht es dennoch nicht. Seit seiner Scheidung lebt er zusammen mit anderen Männern in einer Zweck-WG.
Interessanterweise fühlt sich Larry eher von muslimischen Zuwanderern bedroht - obwohl die in Kanada zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen und Larry sogar einige pakistanische Freunde hat. Doch Larry ist viel im Internet unterwegs. Dort, so sagt er, erfahre er unter anderem, was in Deutschland gerade los sei. Die offiziellen Medien in Kanada berichteten darüber ja nicht. Sein Eindruck: Deutschland wird von muslimischen Zuwanderern überflutet. Und: Muslime sind seiner Ansicht nach generell radikal, also gefährlich, und frauenfeindlich sowieso.
Dass in seiner Heimatstadt Asiaten inzwischen die Mehrheit stellen, kritisiert Larry nicht. Er steht zum Multikulturalismus. Handlungsbedarf sieht er lediglich, was die Vergabe befristeter Aufenthaltsgenehmigungen angeht. Die sollen eigentlich nur erteilt werden, wenn kanadische Arbeitskräfte fehlen, nicht aber wenn die teurer sind. Doch die Prüfungen sind eher lax.
Auch keine Partei in Vancouver fordert einen Zuzugsstopp für Einwanderer; keine Bürgerinitiative warnt vor Überfremdung. Das liegt zum einen daran, dass Kanadier Verschiebungen bei den Herkunftsländern von Einwanderern als Teil globaler Entwicklungen verstehen. Waren es früher vor allem arme Europäer, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen ihre Heimat verließen, sind es heute eben eher Chinesen, Inder, Vietnamesen oder Afrikaner.
Doch auch die kanadische Geschichte spielt eine Rolle. Mit welchem Recht sollten europäischstämmige Kanadier die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen verbieten, wo sie doch selbst einst Eindringlinge auf dem amerikanischen Kontinent waren?
Die ersten Chinesen kamen zudem schon Mitte des 19. Jahrhunderts nach Kanada - als Händler, Goldschürfer, Arbeiter. Viele wurden sogar aktiv angeworben, um beim Bau der Eisenbahn im Westen Kanadas zu helfen. Chinesen und auch Inder haben Vancouver mitaufgebaut. Sie betreiben hier seit langem kleine Geschäfte, Restaurants und große Handelsunternehmen. Sie zahlen Steuern und schaffen Arbeitsplätze.
Gleichberechtigt waren asiatische Kanadier zunächst dennoch nicht. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es auch immer wieder Versuche, die Einreise von Asiaten zu begrenzen oder gar ganz zu unterbinden. Erst nach dem Krieg wurden die Diskriminierungen schrittweise aufgehoben. Alles andere wäre in einer modernen westlichen Demokratie schließlich undenkbar.
Die Zuwanderung aus Asien hat also eine lange Tradition in Kanada. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie allerdings eine neue Dynamik entfaltet. Aus Hongkong und vom chinesischen Festland kommen zudem immer mehr reiche Einwanderer nach Vancouver. Die sind als Investoren zwar hoch willkommen, für die Stadtentwicklung aber eine echte Herausforderung. Mehr dazu in meinem nächsten Beitrag.
Mittwoch, 29. August 2018
Warum Deutschland und Kanada nur bedingt vergleichbar sind
Zu meinen ersten überraschenden Erkenntnissen in Kanada gehört, dass das Land ein Flüchtlingsproblem hat. Beziehungsweise, dass viele Kanadier fürchten, es könnte eines bekommen - obwohl kein Schlauchboot die kanadischen Küsten erreichen kann und der einzige Nachbar, die USA, ein Industrieland ist.
Migrationsmäßig war Kanada bisher eine Art Insel. Flüchtlinge gelangten vor allem über Umsiedlungsprogramme der UN für Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten ins Land. Kanada legt dafür ein jährliches Kontingent fest. In diesem Jahr sollen bis zu 43.000 Menschen kommen dürfen.
Doch nun tauchen immer mehr Flüchtlinge direkt an Kanadas Grenze auf. Nicht nur US-Bürger, die Präsident Donald Trump nicht ertragen, suchen Zuflucht im liberalen Nachbarland. Auch Mexikaner oder Haitianer, die angesichts der Abschottungspolitik der US-Regierung damit rechnen müssen, ausgewiesen zu werden, ziehen weiter nach Norden. Sei es, weil sie sich illegal in den USA aufhalten oder weil ihre Aufenthaltserlaubnis möglicherweise nicht verlängert wird.
Tausende haben inzwischen die Landgrenze zwischen den USA und Kanada überwunden. Und ähnlich wie in Afrika, Nahost und auf dem Balkan haben sich kriminelle Schlepperbanden etabliert, die sie über die Grenze bringen. 4000 kanadische Dollar (rund 2640 Euro) kostet das pro Person.
Die Zahl der illegalen Übertritte lässt sich mit den Migrationsbewegungen in die EU nicht vergleichen. Dennoch sind viele Kanadier beunruhigt. Die Sicherheitskräfte seien auf die Situation nicht vorbereitet, heißt es immer wieder. Sie müssten massiv aufgestockt werden. Das wäre allerdings teuer. Letztlich ist eine lückenlose Überwachung der kanadischen Südgrenze ohnehin illusorisch. Schließlich ist sie mehr als 6400 Kilometer lang.
Viele der Migranten aus den USA beantragen Asyl in Kanada. Eine Chance auf Anerkennung haben sie aber kaum. Für Deutsche hört sich das bekannt an. Ebenso wie die Sorgen, die viele Kanadier äußern: Werden die illegalen Einwanderer das Sozialsystem überfordern? Wird die Kriminalität steigen? So hitzig wie in Deutschland wird das Thema hier aber längst nicht debattiert. Von offenem Protest ganz zu schweigen.
Die Entwicklung zeigt vor allem eines: Auch die beste Einwanderungspolitik - Kanada gilt weltweit als Vorbild - bietet dauerhaft keine Garantie für eine kontrollierte Zuwanderung.
Konkret: Dass Kanada sich anders als Europa oder die USA bisher weder mit vielen Flüchtlingen noch mit einer massenhaften illegalen Einwanderung konfrontiert sah, liegt allein an seiner außergewöhnlichen geografischen Lage und nicht etwa an seinen ausgeklügelten Einwanderungsregeln.
Eine bessere Steuerung der Arbeitsmigration, wie sie die deutsche Bundesregierung nun in Angriff nimmt, wird dadurch natürlich nicht falsch. Wir können aber nicht erwarten, dass nach der Verabschiedung eines Gesetzes, das in erster Linie auf den Zuzug von Fachkräften abzielt, weniger unqualifizierte Migranten auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen nach Deutschland drängen werden.
Europa liegt nun einmal in unmittelbarer Nachbarschaft zahlreicher Krisen- und Armutsregionen. Und gerade Deutschland ist definitiv keine Insel.
Wir werden also auch künftig darüber streiten, ob wir unsere (politische) Energie darauf fokussieren sollten, die Zuwanderung weniger qualifizierter Migranten zu unterbinden, oder darauf, wie wir auch solche Menschen durch Bildung und Ausbildung integrieren können.
Dienstag, 14. August 2018
Im Wettbewerb um Fachkräfte schneiden andere Länder besser ab
Ende August will Innenminister Horst Seehofer (CSU) bereits Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz vorlegen. Kern wird die Regelung der Zuwanderung von Fachkräften sein.
Der kanadische Wirtschaftswissenschaftler Don DeVoretz sieht Deutschland beim Werben um Fachkräfte allerdings auf verlorenem Posten. DeVoretz ist Professor an der Simon-Fraser-Universität in Vancouver. Er gehört außerdem dem internationalen Forschungsnetzwerk des von der Deutsche Post-Stiftung finanzierten Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) an.
Schon vor einigen Jahren stellte DeVoretz Europas Einwanderungspolitik ein sehr schlechtes Zeugnis aus. 2013 sagte er in einem vom IZA veröffentlichten Interview, Europa werde wohl keine Rolle als global Player in der internationalen Arbeitsmigration spielen. Die “Blue Card”, mit der die EU hochqualifizierte Fachkräfte anwerben wolle, sei nicht sehr erfolgreich.
DeVoretz erklärte die schwache Nachfrage mit dem harten internationalen Wettbewerb um Fachkräfte. Europa biete im Vergleich zu wenig, sagt er im Interview. Andere Länder suchten schon an den eigenen Universitäten nach potenziellen Fachkräften und böten ausländischen Studenten schnelle Einbürgerungsverfahren an.
Die “Blue Card” für die EU gilt dagegen zunächst nur für vier Jahre. Vergeben wird sie zudem nur, wenn ein Bewerber nachweisen kann, dass er ein (recht hohes) Mindestgehalt zu erwarten hat. Er muss also ein konkretes Jobangebot oder einen Arbeitsvertrag vorweisen können.
Immerhin: Innerhalb der EU ist Deutschland einsamer Spitzenreiter bei der Ausstellung der “Blue Card”. Seit der Einführung der Karte vor sechs Jahren nutzen mehr als 81.000 ausländische Fachkräfte dieses Angebot für einen Aufenthalt in Deutschland. Und: Die Zahlen steigen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) teilte vor wenigen Tagen mit, dass Deutschland im ersten Quartal 2018 gut 18,5 Prozent mehr Blaue Karten erteilt hat als im Vergleichsquartal des Vorjahres.
Ich hoffe, dass ich Don DeVoretz demnächst in Vancouver treffen und mit ihm über die aktuelle Entwicklung sprechen kann.
Deutschland hat seiner Ansicht nach einen entscheidenden Standortnachteil im internationalen Wettbewerb um Fachkräfte. Die meisten Studenten lernten nun einmal Englisch, nicht aber Deutsch, so seine Begründung.
Das Interview mit Don DeVoretz aus dem Jahr 2013 finden Sie auf youtube.
Samstag, 4. August 2018
Der Hintergrund meiner Recherchen
Nach Jahrzehnten ungeplanter Zuwanderung will die Bundesregierung ein Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen. Möglichst noch in diesem Jahr. Über die Ausgestaltung des Gesetzes wird derzeit debattiert. Gesucht werden Vorbilder, Länder, die Zuwanderung aktiv regeln und Integration leben. Und die damit gut fahren.
Ein Land wird dabei immer wieder genannt: Kanada. Doch taugt der nordamerikanische Staat wirklich als Modell für Deutschland? Das will ich in den kommenden Monaten herausfinden.
Als Ausgangspunkt habe ich Vancouver gewählt. Vor allem Zuwanderer aus Asien haben die Stadt in den vergangenen 20 Jahren geprägt.
Welche Erfahrungen haben Alteingesessene und Zuwanderer in dieser Zeit gemacht? Wie kommen sie miteinander aus? Hat sich die Stimmung in der Stadt verändert? Oder das Leben ganz allgemein?
Wie organisiert Vancouver die Integration? Welche Angebote bringen die Zuwanderer wirklich weiter?
Welche Fehler wurden gemacht?
In diesem Blog möchte ich meine Erkenntnisse weitergeben, über Gespräche mit Fachleuten berichten, aber auch über ganz praktische Alltagserlebnisse.
Zum Hintergrund: Kanada steuert die Zuwanderung tradtionell über ein Punktesystem, das auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes ausgerichtet ist. Bewerber mit Qualifikationen, die in Kanada stark nachgefragt sind, erhalten viele Punkte und können bevorzugt einreisen. Kanada schaffte es so, besonders Fachkräfte und Akademiker ins Land zu holen.
Ein ähnliches System schwebt vielen für Deutschland vor. Doch Kanada hat sein System immer wieder reformiert und neben dem Punktesystem inzwischen auch andere Verfahren und Programme zur Steuerung der Zuwanderung eingeführt. Denn Fakt ist: Viele Neuankömmlinge schafften den Sprung in den Arbeitsmarkt in der Vergangenheit nicht. Die Arbeitslosenzahl unter ihnen ist doppelt so hoch wie in der übrigen Bevölkerung. Und das, obwohl die sprachliche Barriere deutlich niedriger ist als in Deutschland.
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